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13.12.1967: Contergan: Anklageerhebung
Am Ende gab es kein Urteil, sondern einen außergerichtlichen Vergleich: "Wegen geringer Schuld, und weil ein öffentliches Interesse an einer weiteren Strafverfolgung nicht erkennbar ist." So lautete die juristische Formel, mit der im Dezember 1970 der bis dahin aufwendigste Strafprozess der deutschen Rechtsgeschichte zu Ende ging.

Drei Jahre zuvor, am 13. Dezember 1967, hatte die Staatsanwaltschaft Aachen die Anklage erhoben. Auf 972 Seiten warf sie mehreren Managern des Pharmaunternehmens Chemie Grünenthal vor, die Verantwortung für den so genannten Contergan-Skandal zu tragen.

Rückblick

Das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan wird 1957 auf den Markt gebracht. Es gilt als verträglich und sehr wirksam. In Deutschland kann man es ohne Rezept kaufen. Das Medikament "Made in Germany" setzt sich schnell durch, auch im Ausland. Doch dann geschieht das Unvorstellbare. Überall kommen Kinder zur Welt mit fehlenden Gliedmaßen. Auch Schäden an Ohren und Augen sind häufig. Die Ärzte sind zunächst ratlos, die Familien fühlen sich allein gelassen.

Petra Linnen, ein Contergan-Opfer, berichtete: "Das war dann auch ein einziges Spießrutenlaufen. Wir wohnten in einem kleinen Dorf. Die Leute waren so frech, muss ich heute sagen, die haben mich ausgepackt aus dem Wagen und geschaut, wie wohl die Behinderung aussieht."

Nur langsam kommt die Suche nach der Ursache der vielen Missbildungen in Gang. Erste Vermutungen gibt es schon 1958. 1961 stößt der Hamburger Arzt Widukind Lenz schließlich auf eine schlüssige Erklärung. Er stellt fest, dass die Mütter der behinderten Kinder während der Schwangerschaft das verbreitete Medikament Contergan eingenommen haben. Dennoch will Chemie Grünenthal das hochprofitable Arzneimittel zunächst nicht aus dem Verkehr ziehen.

Ende 1961 wird der Verkauf von Contergan in Deutschland schließlich verboten. Ein Skandal, fand der Contergan-Geschädigte Tilman Kleinert: "Mir fällt dazu ein, dass ich nicht verstehen kann, dass es so lange Jahre gedauert hat, ich glaube dreieinhalb bis vier Jahre. Bis das Bundesgesundheitsamt sich damals durchringen konnte, bei auftauchenden Verdachtsmedikamenten den Beschluss zu fassen, auf den Beipackzettel zu vermerken: Nicht an Schwangere abzugeben."

Nach und nach wird das Ausmaß der Medizin-Katastrophe deutlich. In Deutschland sind rund 2.500 Kinder mit Schädigungen auf die Welt gekommen. Weltweit sind es damals 12.000 Babys. Die Staatsanwaltschaft nimmt die Ermittlungen auf. Es geht um die Frage nach der Schuld der Hersteller-Firma. Hätte das Medikament jemals auf den Markt kommen dürfen? Und hätte die Firma das Medikament Contergan früher zurückziehen müssen? Wie sollen die Opfer entschädigt werden?

Prozess und müder Vergleich

Chemie-Grünenthal hält sich für unschuldig. Die Juristen des Unternehmens versuchen mit allen Mitteln, einen Prozess zu verhindern. Über sechseinhalb Jahre ziehen sich die Ermittlungen der Staatsanwälte hin. 1968 schließlich beginnt die Hauptverhandlung. Angeklagt sind neun leitende Angestellte der Chemie-Grünenthal. Das Interesse an dem Prozess ist beispiellos. Um genug Platz für die vielen Journalisten und Besucher zu schaffen, findet die Verhandlung in der Kantine eines Bergwerks bei Aachen statt.

Doch schon zum Prozessauftakt ist fraglich, ob das Riesenverfahren jemals zum Abschluss gebracht werden kann. Gutachten folgt auf Gutachten, Verfahrensfragen werden über Monate hinweg diskutiert. Die Verteidigung zieht grundsätzlich in Zweifel, dass die Missbildungen durch Contergan verursacht worden sind.

Bei all dem geraten die Opfer immer mehr aus dem Blickfeld. Den Familien geht es vor allen Dingen auch um die finanzielle Absicherung ihrer behinderten Kinder. Einen Umstand, den sich die Verteidiger schließlich zunutze machen. Sie unterbreiten den Betroffenen ein Angebot. Claudia Schmidt-Herterich, Sprecherin des internationalen Verbands der Contergan-Geschädigten: "Der Druck wurde sehr hoch von der Firma Grünenthal. So war dann auch die Formulierung: entweder Rente oder gar nichts an Geld. So aus der Situation, mit den finanziellen Problemen, in den Kämpfen, da jetzt noch die optimalste Lösung zu finden - also ich würde mich heute auch überfordert fühlen."

Nachdem der Vergleich geschlossen ist, zahlt Chemie-Grünenthal umgerechnet rund 56 Mio. Euro in eine Stiftung, weitere 51 Mio. Euro trägt der Bund bei. Bis 1997 wurde den Contergan-Opfern aus diesem Topf, danach vonm Bund alleine, eine Rente gezahlt: sie erhielten maximal 545 Euro pro Monat.

Nachtrag

Fast unbeachtet von der Öffentlichkeit ist der Contergan-Wirkstoff Thalidomid inzwischen wieder auf dem Vormarsch. In Deutschland werden seit Mitte der 1990er-Jahre versuchsweise Krebs- und Aids-Patienten mit Thalidomid behandelt. Und die Weltgesundheits-Organisation empfiehlt den Stoff bei der Behandlung von Lepra. Besonders in Entwicklungsländern kommt deshalb der Contergan-Wirkstoff verstärkt zum Einsatz. Zwar ist die Ausgabe an schwangere Frauen streng untersagt, doch die Kontrolle funktioniert nicht überall. So sind in Brasilien eine Reihe von Kindern ohne Arme und Beine auf die Welt gekommen, denn die Ärzte hatten die Mütter nicht vor den Risiken des Medikaments gewarnt.


Autor: Holger Hank
   
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