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8.10.1982: Solidarnosc verboten
"Noch ist Polen nicht verloren!", die optimistische Zeile in Polens Nationalhymne schallte über die riesige Danziger Lenin-Werft. Seit zehn Tagen streikten nun schon die Arbeiter des sozialistischen Vorzeigebetriebs.

Zunächst war es den Werftarbeitern mit ihrem Ausstand nur um Lohnerhöhungen gegangen. Die wirtschaftliche Situation in Polen war chaotisch in diesem Sommer 1980, die Regale in den Läden leer, riesige Warteschlangen bildeten sich vor den Geschäften, es herrschte Not.

Doch plötzlich gesellte sich ein junger Mann mit einem gewaltigen Schnurrbart zu den Streikenden, der hier auf der Lenin-Werft einst als Elektromonteur arbeitete. Als Betriebsrat war er an den Arbeiterunruhen von 1970 beteiligt und nach einem weiteren Streik sechs Jahre später entlassen worden war. Sein Name sollte in den nächsten Tagen um die Welt gehen: Lech Walesa.

Vertrauen

Schnell fassten die streikenden Werftarbeiter Vertrauen zu diesem Mann, den sie 'Leszek' nannten. Vor allem aber bekam der Streik mit dem Auftauchen von Leszek eine politische Dimension. Neben einer besseren Versorgung mit Lebensmitteln stand nun auch die Presse- und Meinungsfreiheit, vor allem aber das Streikrecht und die Zulassung freier und unabhängiger Gewerkschaften auf der Liste der Forderungen.

An diesem zehnten Streiktag passierte das Unfassbare. Nach den langen und zähen Tagen des Wartens hatte sich Warschau endlich entschlossen, eine Regierungskommission unter Leitung des polnischen Vize-Premierministers Mieczyslaw Jagielski zu den Streikenden an die Ostsee zu schicken.

Optimismus

Unter den Arbeitern machte sich Optimismus breit. "Wenn sie verhandeln, schießen sie nicht!", sagten viele und erinnerten sich an das blutige Ende zehn Jahre zuvor. Als sich Lech Walesa in den späten Abendstunden dieses 23. August 1980 mit zwei Kollegen in einen Danziger Vorort begab, um sich mit Jagielski zu treffen, war der Streikführer aus der Lenin-Werft zuversichtlich: "Zehn Jahre lang habe ich auf eine solche Situation gewartet. 1970 gehörte ich dazu. Auf mir lastet das Blut der Gefallenen. Damals war ich nicht an der engsten Spitze, damals war ich 27 Jahre alt. Da hatte ich noch keine Erfahrung und habe es noch nicht so gut gemacht. Das gebe ich zu. Jetzt mache ich das ein bisschen besser."

Was folgte, waren zähe Verhandlungen zwischen der Abordnung der Streikenden und der Regierungskommission. Hatte Jagielski zunächst noch die Hoffnung mit der Erfüllung der Forderung nach volleren Lohntüten die Streikfront aufbrechen zu können, musste er sich schließlich allen Forderungen beugen. Am Abend des 29. August lenkte er schließlich auch in der Frage einer unabhängigen Gewerkschaft ein.

Solidarität

Mieczyslaw Jagielski sagte: "Ich schlage vor, diesen Punkt zu paraphieren. Ich unterschreibe, fahre nach Warschau, wo um 3.00 Uhr das ZK-Plenum tagt, referiere die Sache, komme zurück. Ich habe die Bitte, dass wir dann feierlich unterzeichnen." Am nächsten Tag, nachdem Jagielski mit der Zustimmung der Parteiführung zurückgekommen war, sprach Lech Walesa den entscheidenden Satz: "Ich erkläre den Streik für beendet!"

Dies war die Geburtsstunde von "Solidarnosc", der unabhängigen Gewerkschaft "Solidarität". Doch ein Jahr später war die polnische Partei- und Staatsführung mit ihrem Latein am Ende. Die erzwungene Liberalität hatte ihre Autorität erschüttert, die zugesicherten materiellen Verbesserungen den Staatshaushalt an den Rand des Kollaps gebracht.

Repression

Am 13. Dezember 1981 übernahm Armeegeneral Wojciech Jaruzelski die Macht und verhängte das Kriegsrecht über das Land. Er ließ Tausende verhaften oder in Lagern internieren - darunter auch den Streikführer aus Danzig, Lech Walesa.

Dennoch dauerte es noch fast zehn Monate, ehe Jaruzelski am 8. Oktober 1982 zum entscheidenden Schlag ausholte und die unabhängige Gewerkschaft Solidarität offiziell verbot. Dahinter steckte das verzweifelte Aufbegehren eines zum Untergang bestimmten Systems.

Autor: Gerhard Haase
   
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