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31.7.1992: Letzter Abschnitt Main-Donau-Kanal
Wann ist der richtige Zeitpunkt, ein verlustreiches Geschäft zu beenden? Nicht nur Investoren am Neuen Markt fragen sich, ob sie dem Schrecken ein Ende bereiten sollen - oder ob die Verluste nicht doch durch künftige Gewinne ausgeglichen werden können. Was also ist besser: Einer Vision zu folgen oder das Scheitern zu akzeptieren?

Das Dilemma wird auch durch folgende Vision illustriert: die Vision einer durchgehenden Schifffahrtsverbindung zwischen Rhein und Donau. Den ersten Versuch ihrer Verwirklichung unternahm Karl der Große vor über 1200 Jahren. Rund zehntausend Personen waren mit dem Bau seines "Karlsgrabens" und mit der schwierigen Versorgung der Arbeiter beschäftigt.

Trotz des enormen Aufwands hatte der Plan seine Berechtigung, denn der Transport zu Schiff war damals, im frühen Mittelalter, um vieles bequemer, sicherer und schneller als ein Wagentransport. Die Vision stieß an ihre Grenzen, als der Graben infolge starker Regenfälle ständig wieder einbrach und die Arbeiter nicht mehr zu versorgen waren. Der Bau wurde abgebrochen, die Vision hatte ein Ende mit Schrecken gefunden.

Der zweite Versuch begann über 1000 Jahre später. Der bayerische König Ludwig I. begeisterte sich für eine schiffbare Verbindung zwischen dem nördlichen und dem südlichen Teil Bayerns. 1836 begann der Bau des so genannten Ludwigskanals zwischen Kehlheim an der Donau und Bamberg am Main.

Nach zehn Jahren war der Kanal fertig und warf in den ersten Jahren sogar Gewinn ab; aber er war von Anfang an zu schmal und geriet später gegenüber der Eisenbahn ins Hintertreffen. Amortisiert hat sich der Kanal in knapp 100 Betriebsjahren nie. Der bayerische Staat musste Ludwigs Vision teuer bezahlen.

Der dritte Versuch, die Vision zu verwirklichen, entsprang der Technikbegeisterung der frühen 1920er. Eine große Main-Donau-Verbindung sollte die Nordsee mit dem Schwarzen Meer verbinden. Mit nie da gewesenem Aufwand wurde der Main auf kompletter Länge bis Bamberg kanalisiert und schifffahrtstauglich gemacht. Auch die Donau wurde mit etlichen Staustufen ausgebaut, noch heute ist der Ausbau nicht abgeschlossen.

1960 endlich begannen die Bauarbeiten für den eigentlichen Kanal, im wesentlichen parallel zum alten Ludwigskanal. In den ersten zwanzig Jahren wurden rund 2,9 Milliarden DM verbaut. Volker Hauff, der letzte Verkehrsminister der sozialliberalen Koalition in Bonn, wollte 1981 die Notbremse ziehen: Er wollte nicht noch einmal rund 2 Milliarden DM in das Projekt stecken und nannte den Kanal "die größte Dummheit seit dem Turmbau zu Babel".

Er konnte sich politisch nicht durchsetzen. Das Eingeständnis des Scheiterns nach 60 Jahren Bauphase wäre unerträglich gewesen. Und so gingen die Bauarbeiten weiter, bis endlich am 31. Juli 1992 der letzte Abschnitt des Rhein-Main-Donau-Kanals geflutet wurde.

4,7 Milliarden DM hat der Kanal gekostet, die Ausbaumaßnahmen von Main und Donau nicht mitgerechnet. Der Landschaftsverbrauch für den Kanal hat, allen Renaturierungsversuchen zum Trotz, unerträgliche Ausmaße angenommen. Und wofür?

Es ist wahr: Die über den Kanal bewegte Gütermenge wächst von Jahr zu Jahr, und jährlich 10.000 Schiffe ist eine stolze Zahl. Beim Nachrechnen kommen Zweifel: 10.000 Schiffe, das sind pro Tag 14 Schiffe in die eine und 14 in die andere Richtung. Gerade vier Prozent der Gütermenge in der deutschen Binnenschifffahrt gehen über den Kanal. Und wer wirklich vom Schwarzen Meer zur Nordsee will, fährt über Gibraltar. Die Vision eines durch den Kanal zusammenwachsenden Europas mag noch nicht zerstört sein, aber sie ist teuer bezahlt.

Autor: Carsten Heinisch
   
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