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28.8.1983: Naegeli wird verhaftet
Den deutschen Fahndungsbehörden gelang ein "großer Fang": Im schleswig-holsteinischen Fährbahnhof Puttgarden lief ihnen ein Mann in die Arme, der zwei Jahre mit internationalem Steckbrief gesucht wurde. Der gesuchte "Straftäter" wurde sofort nach seiner Verhaftung in die Justizvollzugsanstalt Lübeck gebracht, wo er für 20 Tage in Auslieferungshaft genommen wurde.

Dann entschied das Oberlandesgericht Schleswig, den Inhaftierten gegen eine Kaution von umgerechnet 20.000 Euro auf freien Fuß zu setzen. Man wollte abwarten, ob der Bundesgerichtshof in Karlsruhe seiner Auslieferung zustimmte.

Bis das geschehen und der Verhaftete tatsächlich in die Schweiz zurückgeschickt werden sollte, wo er eine neunmonatige Haftstrafe antrat, setzte in Deutschland eine Diskussion über die Strafwürdigkeit des Mannes ein. In der Heimat des Mannes, so bestätigte es selbst das Obergericht des Kanton Zürich dem damals 43-jährigen Harald Naegeli offiziell, gab es darüber keine Diskussion: Naegeli habe "intensiven deliktischen Willen", befand die eidgenössischen Richter, die ihm auch 206.000 Franken Schadensersatz aufgebrummt hatten.

"Intensiver deliktischer Wille"

Dieser starke Wille wurde jedoch nicht durch Einbrüche oder Diebstähle zum Ausdruck gebracht, sondern durch nächtliche Touren durch Zürich, bei denen Naegeli kunstvolle Strichmännchen auf Hauswände, Garagen und Brücken sprühte. Der "Sprayer von Zürich", so hieß der zunächst anonyme Vorreiter der Graffiti-Kunst, wird von den Medien zu einem Phantom hochstilisiert. Hausbesitzer, Behörden und die Polizei behandelten ihn aber rasch wie einen gemeinen Kriminellen.

Zwei Jahre lang sprayte sich Naegeli durch Zürich, verfolgt von der Polizei und von städtischen Putzkolonnen, die die von ihm "verzierten" Flächen wieder reinigen mussten. "Vandalismus" und "Sachbeschädigung großen Stils" wurden ihm vorgeworfen, und es hagelte Strafanzeigen gegen ihn.

Gegen Gewalt und Spießertum

Dabei wollte der diplomierte Psychologe mit seinen Graffiti gegen Gewalt und Spießertum protestieren, wie er es von klein auf getan hatte. Schon früh hat er sich dabei kindlich-naiver Zeichnungen bedient, die Grundlage seiner Strichmännchen.

Harald Naegeli selbst sagte einmal in einem Zeitungsinterview: "Ich bin im Krieg geboren, und ich habe die Gewalt auf eine seltsame Weise immer wieder zeichnerisch bearbeitet. Im Alter von vier bis sechs Jahren habe ich nichts anderes als Kriegs- und Schlachtenbilder gemalt. Diese infantilen zeichnerischen Darstellungen waren eine Auseinandersetzung mit der Gewalt. Das waren Prozesse, während denen ich mit Genussfreude Menschen darstellte, die ohne Köpfe herumlagen, ohne mir bewusst zu sein; was das bedeutet."

Würdigung der Kunst

1979 wurde Naegeli zum ersten Mal festgenommen, und wegen Sachbeschädigung in 179 Fällen zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt. Für den Sprayer kein Grund zur Traurigkeit, er nahm sein "Handwerk" gleich wieder auf und verärgerte die Eidgenossen derart, dass sie ihn erneut verurteilten - diesmal zu neun Monaten - und ihn international zur Fahndung ausschrieben.

Natürlich wusste man in Zürich, wo Naegeli sich aufhielt: Er hatte sich inzwischen in Düsseldorf niedergelassen und in Wiesbaden einen Lehrauftrag angenommen. In der Bundesrepublik wusste man seine Kunst zu würdigen - zumindest in Kunst-, wenn auch vielleicht nicht in Hausbesetzer-Kreisen - und hier, so schwärmte Naegeli, sei man nicht so spießig.

"Das ist Kunst"

Der "Sprayer von Zürich" wurde von der deutschen Justiz aber doch in die Schweiz abgeschoben, und musste seine Haft absitzen. Danach kehrte er der Heimat umso entschlossener den Rücken. Nur zu gelegentlichen "Spritz-Touren" kehrte er nach Zürich zurück.

Geändert hat sich inzwischen auch in Zürich die Meinung über den Mann: War man in den 1980er-Jahren krampfhaft bemüht, wirksame Reinigungs- und Gegenmittel gegen seine Bilder zu finden und zu entwickeln, so werden die wenigen bis heute nicht entfernten Naegeli-Bilder heute bei Fassaden-Reinigungen sorgsam erhalten. Denn die Bilder des "Sprayers von Zürich" sind längst anerkannte Kunstwerke - wenn auch nicht an allen Stellen: Erst 2008 wurde Naegeli beim Verzieren eines Bürogebäudes in Düsseldorf gesehen und angezeigt. Seine Verteidigung: "Das ist Kunst".


Autor: Peter Philipp
   
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