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10.10.1962: Spiegel-Affäre
Heinrich Wunder ist Oberregierungsrat im Bundesverteidigungsministerium. Am Mittwoch, den 10. Oktober 1962, beginnt er eine ebenso ungewöhnliche wie folgenschwere Untersuchung: Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe hatte tags zuvor das Amt für Sicherheit gebeten, eine Titelgeschichte des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" daraufhin zu untersuchen, ob hierin militärische Geheimnisse preisgegeben wurden.

Das Magazin hatte in einem groß aufgemachten Bericht über das NATO-Herbstmanöver "Fallex 62" unter dem Titel "Bedingt abwehrbereit" vor allem über einen Streit zwischen den USA und Bundesverteidigungsminister Franz-Josef Strauß berichtet: Washington fordere die Stärkung der Bundeswehr mit konventionellen Waffen, während Strauß auf die Einführung von Nuklearwaffen dränge. Ein Bericht, der sich offensichtlich auf gute Insider-Informationen stützte.

Die Bundesstaatsanwaltschaft war aber bereits vor dem Erscheinen dieser Titelgeschichte auf den Spiegel gehetzt worden: Der bayerische Staatsrechtler Friedrich August von der Heyde, nebenher Reservegeneral der Bundeswehr und Mitglied der bayerischen CSU, hatte nach wiederholten Vorwürfen gegen den "Spiegel" das Magazin am 1. Oktober wegen Landesverrats in Karlsruhe angezeigt. Besonders die kritische Berichterstattung über Minister und CSU-Chef Franz-Josef Strauß war von der Heyde wohl ein Dorn im Auge, und in dem Manöverbericht vermuteten die Staatsanwälte in Karlsruhe nun einen Anlass zum Einschreiten.

Das Gutachten des Oberregierungsrats ist neun Tage später fertig, und kurz darauf bringt er es selbst nach Karlsruhe. Dienstchef Franz-Josef Strauß wird informiert, und es kommt zu engen Kontakten in der Sache zwischen dem Verteidigungsministerium und der Bundesanwaltschaft. Und auch im Spiegel wird natürlich bekannt, dass eine Untersuchung im Gange ist.

Verlagsleiter Hans Detlev Becker kritisiert später: "Ob dieses Gutachten in diesem Falle vollkommen objektiv ausfallen kann, wo doch in gewisser Weise der Kläger hier zum Richter wird, daran haben wir Zweifel."

Der Bundesanwaltschaft kamen solche Zweifel offenbar nicht. Am 27. Oktober, also eine Woche nach dem Erhalt des Gutachtens, lässt sie die Redaktionsräume des "Spiegel" durchsuchen und einige Redakteure verhaften. Sie stehen unter dem Verdacht des Landesverrats und der Beamtenbestechung. Der für den umstrittenen NATO-Bericht verantwortliche Redakteur Conrad Ahlers wird durch Intervention von Minister Strauß in Spanien festgenommen, "Spiegel"-Herausgeber Rudolf Augstein stellt sich selbst.

Der Bevölkerung wird der Eindruck vermittelt, den der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer ebenso kurz und prägnant wie aber auch falsch zusammenfasste: "Wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande."

Der "Spiegel" weicht vorübergehend auf die Redaktionsräume anderer Medien aus, die ihm diese in Solidarität zur Verfügung gestellt haben. In der Presse nämlich will man den Anschuldigungen nicht folgen, sondern betrachtet die "Spiegel-Affäre" als einen äußerst gravierenden Fall von Amtsmissbrauch.

Im Mittelpunkt steht Franz-Josef Strauß, dem man unterstellt, mit dem Schlag gegen den "Spiegel" einen unliebsamen Kritiker mundtot machen zu wollen. Man hat ihm aber auch nachgewiesen, dass er durch seinen persönlichen Einsatz bei der Verhaftung von Redakteur Ahlers sein Amt missbraucht hat.

Selbst konservative Medien kritisieren und verurteilen das Vorgehen, und auch im Bundestag stehen Adenauer und Strauß recht einsam da.

"Solange allerdings ein rechtskräftiges Urteil eines unabhängigen Gerichtes die letzte Entscheidung nicht getroffen hat, gelten nach unserer Strafprozessordnung alle zwar als Verdächtige und Beschuldigte, doch noch nicht als verurteilte Landesverräter", erklärt der Führer der Freien Demokraten, Erich Mende, im Bundestag und setzt sich deutlich von Adenauer ab.

Und selbst Rainer Barzel, Fraktionsführer von Adenauers CDU-CSU, kann dem Kanzler nicht folgen: "Niemand in diesem Staat ist eines Verbrechens schuldig, bevor dies bewiesen ist."

Bewiesen wurde die Schuld nie: Die Verhafteten kamen nach einigen Monaten wieder frei, über ein Jahr nach den Verhaftungen wird das Verfahren "mangels Beweises" eingestellt. Die Bundesregierung ist inzwischen wegen der Spiegel-Affäre zurückgetreten, und Franz-Josef Strauß gehört dem nächsten Kabinett nicht mehr an – wenngleich seine politische Laufbahn nur vorübergehend darunter leidet.

Strafrechtlich wird nichts gegen ihn unternommen und Jahre später wird auch eine Verfassungsbeschwerde des "Spiegel" abgelehnt. Dennoch gilt die "Spiegel-Affäre" als ein klassischer Prüfstein für die deutsche Demokratie und die Pressefreiheit in Deutschlands. Nie wieder haben Politik oder Justiz seitdem versucht, so dreist gegen die Pressefreiheit vorzugehen.

Autor: Peter Philipp
   
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