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4.8.1997: Oder-Hochwasser-Pegel sinkt
Ausnahmezustand im Oderbruch. Die Stimmung am 30. Juli 1997 ist auf dem Nullpunkt. Sollte doch alles vergeblich gewesen sein? Rund um die Uhr kämpfen die Oder-Anrainer Seite an Seite mit 14.000 Soldaten gegen die Wassermassen.

Rückblende: Eine Woche zuvor ist der Damm bei Brieskow-Finkenherd gebrochen. Sandsäcke konnten die Flut nicht stoppen. 500.000 Liter Wasser pro Sekunde sind durch die Lücke im Damm in die Ziltendorfer Niederung geströmt. Aurith und die Ernst-Thälmann-Siedlung stehen neun Meter unter Wasser. Bricht jetzt der Deich bei Hohenwutzen an der Achillesferse des Oderbruchs, dann sind fast 20.000 Menschen in Lebensgefahr.

An mehreren Stellen ist der Damm bereits abgerutscht. Sirenen heulen, Häuser werden geräumt. Eigentlich gibt es keine Chance mehr. General Hans-Peter von Kirchbach, von 1999 bis 2000 Generalinspekteur der Bundeswehr, befehligt die Soldaten an der Oder. In einem Interview sagte Hans-Peter von Kirchbach: "Da war meine Lagebeurteilung so: Verloren hat man, wenn man verloren hat, aber nicht vorher. Zum Handy gegriffen, veranlasst vom Deich aus, dass alle Hubschrauber Netze und Sandsäcke aufgenommen haben und dann im Minuten-Takt dort abgelegt haben."

Eine Chance von 1:10 hatte Matthias Platzeck, damals Brandenburgs Umweltminister, dem Deich bei Hohenwutzen gegeben. Hier, wo die Oder einen scharfen Knick macht, steht der Damm am 13. Hochwasser-Tag unter enormem Druck. Bricht er, dann ist die ganze Region binnen kürzester Zeit überflutet.

Ein Landstrich im äußersten Osten Deutschlands, der vor 250 Jahren von Friedrich dem Großen trocken gelegt wurde und seither als Gemüsegarten Berlins gilt. Doch der Mensch hat vor allem am Oberlauf des Flusses durch Industrialisierung und Vernichtung von Waldgebieten in die Natur eingegriffen. Der Boden kann die Wassermassen nicht mehr zurückhalten, die Fließgeschwindigkeit der Oder hat sich dadurch erhöht.

Platzeck, den sie wegen seiner Umsichtigkeit den Deichgrafen nennen, handelt, formuliert aber auch Forderungen. Ufergebiete müssen wieder natürlicher werden, Kanalisierungen verhindert werden, Überflutungsgebiete müssen wieder Platz finden. Doch solche Vorhaben kosten Jahrzehnte. Jetzt müssen die Bundeswehr, amtliche und freiwillige Helfer mit persönlichem und technischem Einsatz die Jahrtausendflut eindämmen. Und sie schaffen es, den auf Mississippi-Breite angeschwollenen Strom zu beherrschen.

Am 4. August kommt die Wende. Die Pegel fallen, die Flut geht. Die Bundeswehr bleibt.

Hans-Peter von Kirchbach sagte dazu: "Als klar war, es gelingt den Deich zu halten, als das Aufräumen begann, überlegten wir, wie organisiert man das unkompliziert. Da haben wir den Menschen gesagt: Sprechen Sie die Truppen an. Da haben wir Meldepunkte im Ort eingerichtet, dort haben sie die Hilfe erfahren, die sie brauchten."

Die größte Hilfsaktion seit der Hamburger Flutkatastrophe 1962 läuft auf vollen Touren. Milliardenschäden in der Landwirtschaft, hunderte ruinierte Häuser - doch niemand verliert sein Leben. Der Wasserflut folgt eine Spendenflut ohne Beispiel. Vorurteile zwischen Ost und West verblassen in diesen Sommerwochen 1997.

Der damalige Minister Platzeck beweist eindrucksvoll, dass Umweltpolitiker keine Öko-Fundamentalisten sein müssen, sondern in der Krise pragmatisch agieren können. General Hans-Peter von Kirchbach, militärischer Manager der größten Bundeswehr-Aktion in Friedenszeiten, wird in den Medien und bei den betroffenen Menschen zum Helden des Oderbruch:

"Für uns war das der Mann, der den Oderbruch gerettet hat."
"War ein Mann, der in die Welt gepasst hat, hat was geleistet."
"Ne Leistung hoch drei."
"Konnte mit ihm sprechen, wir haben gestaunt, dass er sich für die Soldaten so eingesetzt hat."
"Hat ja die Truppen befehligt."
"Wo man den Mann hin steckt, macht er seine Aufgabe," sagen Betroffene während einer Umfrage.

Wertschätzungen, die von Kirchbach eher peinlich und auch unpassend erscheinen. Da gäbe es andere Menschen, namhafte wie namenlose, die auf ihre Weise zum Gelingen im Kampf gegen das Wasser beigetragen hätten: "Die Frau, die mit dem Fahrrad auf dem Deich den Soldaten Kirschen gebracht hat oder die jungen Leute, die mir gesagt haben, als wir sie nach zwölf Stunden ablösen wollten, das geht noch drei oder vier Stunden, aber vorher nicht, oder der Minister Ziel, der den Einsatz der Polizei organisiert hat und mit den Landräten verhandelt hat, oder der Minister Platzeck, der seine Deichexperten eingesetzt hat und auch ständig vor Ort war. Also da gab es so viele Menschen, die getan haben, was getan werden musste. Helden-Stories verträgt das eigentlich nicht."


Autorin: Doris Bulau
   
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