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30.10.1957: Erste atomare Kettenreaktion in der BRD
Anfang der 1950er-Jahre galt die Kernenergie als Beginn einer neuen Zeit, das Uran als Symbol für unerschöpfliche Energie und die Befreiung des Menschen von schwerer Arbeit. Heute kann man nur staunen über die Naivität und Begeisterung, mit der damals Kernreaktoren geplant, gebaut und genehmigt wurden.

Nur für die Bundesrepublik hatte die weltweite Atombegeisterung keine konkreten Auswirkungen, denn sie unterlag in den ersten Jahren noch immer den alliierten Einschränkungen und Kontrollen für die Forschung, insbesondere die Kernforschung.

Erst 1955 entfielen mit den Pariser Verträgen auch die Forschungsbeschränkungen - gerade rechtzeitig, sodass eine deutsche Delegation auf die erste UN-Konferenz über die friedliche Nutzung der Kernenergie nach Genf reisen konnte. Auf dieser Konferenz überraschten die Amerikaner mit einer Zusage: Jedem Industrieland, das einen Kernreaktor baute, wollten sie einen Zuschuss von 350.000 Dollar zahlen.

Die Wissenschaftler und die begleitenden Journalisten wurde auf dieser Konferenz der technisch-wissenschaftliche Rückstand der Bundesrepublik auf dem Gebiet der Kernphysik und der Kerntechnik klar. Sie entfachten in den Wochen nach der Konferenz eine regelrechte Kampagne für "das Atom" und die Atomenergie.

Schließlich griff auch Bundeskanzler Adenauer das Thema auf und richtete ein "Atomministerium" ein. Erster Atomminister wurde Franz-Josef Strauß, auf ihn gehen etliche noch heute gültige Grundsatzentscheidungen zurück: Strauß wollte keine staatliche Atombehörde nach dem Vorbild der Amerikaner und Briten; daher wurden alle Fragen der Genehmigung auf die Länder übertragen, die Kernforschung wurde in die Hochschulen integriert, und die Entwicklung der Kerntechnik sollte industrienah stattfinden, damit die Industrie sich rasch Kompetenzen erwerben konnte.

Durch die Dezentralisierung der Kernenergieforschung rissen sich Gemeinden und Hochschulen geradezu darum, dass ein Reaktor bei ihnen gebaut würde. Besonders intensiv waren die Bemühungen des Physikers Werner Heisenberg und des Karlsruher Bürgermeisters.

Heisenberg, damals noch Professor in Göttingen, wollte nach München wechseln und hatte Adenauer ein "Kernstrahlenforschungszentrum" für München vorgeschlagen. Aber der Standort war Adenauer suspekt, weil zu dicht an der "sowjetischen" Grenze gelegen - das Forschungszentrum kam nach Karlsruhe.

Heisenberg war beleidigt, aber die bayerische Staatsregierung spendete ein Trostpflaster der eigenen Art: Sie genehmigte im Sommer 1956 einen Forschungsreaktor in Garching bei München und das dazugehörige Forschungsinstitut. Der Zuschuss der amerikanischen Regierung half bei der Finanzierung.

Und dann ging alles ganz schnell: Schon eine Woche nach dem Beschluss flog der Leiter der Bayerischen Atomkommission nach New York und bestellte einen Kernreaktor, damals ging das so einfach. In Rekordzeit wurden das Gelände in Garching bereitgestellt und die Gebäude für den "Forschungsreaktor München", kurz FRM, errichtet. Die eiförmige Gestalt der Reaktorkuppel gab der Anlage schließlich den inoffiziellen Namen: das "Garchinger Atomei".

Am 30. Oktober 1957, morgens um drei Uhr, kam dann der feierliche Moment: Zwei Techniker der amerikanischen Lieferfirma nahmen den Reaktor in Betrieb. Die Messinstrumente schlugen aus, aus dem Wasserbecken des Reaktors kam ein bläuliches Leuchten: Die erste atomare Kettenreaktion in Deutschland war gestartet.

Das "Atomei" wurde zum Ausgangspunkt einer Entwicklung, in dem das Bauerndorf Garching binnen kürzester Frist zu einem Standort der High-Tech-Forschung wurde. An dem Reaktor sind die unterschiedlichsten Versuche durchgeführt worden, von komplizierten kernphysikalischen Experimenten bis hin zu Untersuchungen über den Einfluss von Bestrahlung auf Materialien und Lebewesen.

Bis in die 1990er wurde der Reaktor genutzt, dann war er für aussagekräftige Experimente nicht mehr leistungsstark genug. In unmittelbarer Nähe wurde ein neuer Reaktor errichtet, der FRM-II.

Aber während sein Vorgänger, das Atomei, niemals umstritten war, war der Nachfolger Gegenstand mehrerer gerichtlicher Auseinandersetzungen, vor allem deshalb, weil er mit hoch angereichertem Uran betrieben wird, das auch als Grundstoff für Kernwaffen dienen kann.

Autor: Carsten Heinisch
   
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